das projekt



1. Ich glaube nicht, dass die Welt ohne mich ein besserer oder sicherer Ort wird.
2. Ihr tut mir damit nicht weh.
3. Bitte behaltet mich alle in Erinnerung. Bitte.
4. Wir sehen uns später, ich warte auf euch.
5. Das warʼs.

5 verschiedene Antworten auf dieselbe Frage: „Haben Sie noch etwas zu sagen, bevor der Staat Texas/Georgia/Illionois/... das gegen Sie gesprochene Todesurteil vollstreckt?“ Die letzten Worte der fünf Todeskandidaten, die von Verzweiflung, Angst, Resignation und vor allem dem allzu menschlichen Streben nach Sinn und Bedeutung zeugen, werden zum Ausgangspunkt eines theatralen Moratoriums, zu dem sich Gernot Grünewald und Christopher Rüping (Regiediplom an der Theaterakademie Hamburg 2011) nach ersten eigenen Inszenierungen an renommierten deutschen Stadt- und Staatstheatern wie Frankfurt, Karlsruhe, Braunschweig, Göttingen und demnächst Jena, Bremen und Wien zusammengetan haben. Das Projekt „von drinnen“ (at) – ein moratorium für drei personen“ versucht sich in einer theatralen Einkreisung einem der seit Jahrzehnten am kontroversesten diskutierten Menschheitsthemen und nach wie vor aktuellsten Gegenwartsfragen zu nähern: der Todesstrafe.
Die Strafe, die in ihrer historischen, juristischen und philosophischen Dimension ausgeleuchtet werden soll, wird dabei in einer theatralen Zuspitzung Metapher zweier grundsätzlicher Prozesse: dem Machtverhältnis zwischen Staat und Individuum („Wer bestimmt eigentlich?“, „Was ist gerecht?“), das im Vorhandensein der Todesstrafe seine groteske Zuspitzung erfährt auf der einen und dem Gefühl individuellen Ausgeliefertseins kraft unserer biologischen Sterblichkeit auf der anderen Seite („Was macht Mut?“, „Was ist wichtig?“). „von drinnen“ meint daher nicht nur den Todestrakt eines Gefängnisses, sondern erhebt die Zelle (ähnlich wie Giorgio Agamben das Lager) im Sinne Camusʼ zu einer der Grunddeterminanten unseres Seins.


RECHERCHE UND WEBSITE
„von drinnen“ versteht sich nicht nur als Theaterprojekt, welches seine Vollendung in einer ausverkauften und gut besprochenen Premiere findet, sondern zugleich als Forschungsprojekt, welches Material sammeln, Verbindungen herstellen, Standpunkte finden will und diese einem öffentlichen Diskurs zur Verfügung stellen will. In diesem Sinne begibt sich jeder am Projekt Beteiligte schon im Vorlauf zu den Proben auf eine individuelle Recherche und sucht nach Material, stellt Kontakte her und bemüht sich um Diskussionen im öffentlichen wie auch im privaten Umfeld.
Seien es Bilder historischer Hinrichtungsapparate, letzte Worte aus US-amerikanischen Todeszellen, philosophische Abhandlungen zum Thema: Das Recherchematerial wird auf einer eigens für das Projekt erstellten Website zusammengestellt, im Stile eines Blogs ständig aktualisiert und somit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Mit Beginn der Proben gibt die Website sowohl Einblicke in die Probenarbeit als auch Ausblicke auf die Vorstellungen. Des weiteren dient sie als Forum, in dem sich Zuschauer vor der Vorstellung informieren oder sogar auf das Projekt einwirken und nach der Vorstellung ein Feedback hinterlassen können. Auf diese Weise hofft „von drinnen“ einen Diskurs anzustiften, welcher sich auch über den Vorstellungszeitraum hinaus und vor allem über die geographischen Grenzen desselben hinaus erhält und dem umfangreichen Material ein Forum bietet, welches sicherlich nicht vollständig in den Rahmen einer ca. zweistündigen Aufführung passen kann.
In diesem Sinne ist diese Website nicht als journalistischer Beitrag zum Thema Todesstrafe gedacht - vielmehr handelt es sich bei den folgenden Seiten um eine Sammlung von größenteils subjektiven Gedankenfetzen, die im Rahmen eines kreativen Prozesses entstanden sind und keinen Anspruch auf Objektivität und Einhalten des Pressekodex erhebt. Es handelt sich vielmehr um unterschiedliche Halb- und Vollgedanken, welche einen Eindruck in unsere Arbeit geben und gleichzeitig in ihrer Unterschiedlichkeit und Unfertigkeit Ideen im Leser anstoßen wollen.

DER TOD EINER STRAFE
die todesstrafe ist abgeschafft. so scheint es zumindest. an das letzte vollstreckte todesurteil der deutschen geschichte dürfte sich heute so gut wie niemand mehr erinnern, in den geschichtsbüchern mutet die schilderung desselben archaisch, fast urzeitlich, an – die todesstrafe selbst scheint einem als rechtsstaatliches fossil aus weiter ferne entgegenzublicken. dass die bundesrepublik oder einer ihrer europäischen nachbarn die todesstrafe wieder einführen könnte, ist eher stoff zweifelhafter kinoabenteuer als eine konkrete angst der bevölkerung. auch außerhalb von deutschland ist die todesstrafe auf dem rückmarsch: noch mitte der 90er jahre wurde die todesstrafe weltweit in über 40 ländern vollstreckt, 2010 waren es nur noch 23, tendenz fallend. und dennoch - in der diskussion ist die todesstrafe genau so lebendig wie eh und je.

DIE STRAFE UND IHR DISKURS
der private wie der öffentliche diskurs um die todesstrafe flammt in regelmäßigen abständen immer dann wieder auf, wenn es dazu einen äußeren anlass gibt: das ableben von saddam hussein, osama bin laden und muammar al-gaddafi brachte zahlreiche diskussionen darüber mit, in welcher weise eine gesellschaft bzw. der sie repräsentierende staat gewalt über seine despoten walten lassen darf. hollywoodproduktionen wie "the green mile", "the life of david gale", "dead man walking" garantieren heftige feuilleton-diskussionen und aufgeregte besucherzahlen in den kinos. camus' "der fremde", dostojewskis "idiot", kurzgeschichten von hugo, orwell, tucholsky sowie unzählige grisham-romane - alles texte, die uns nach wie vor auf die eine oder andere art zu beschäftigen scheinen, weil ihr thema, die todesstrafe, die mode überdauert hat.
in den tagen, bevor der us-amerikaner troy davis mitte september im us-staat georgia hingerichtet wurde, überschwemmten kettenmails mit letzten hilfeaufrufen die mailaccounts einer ganzen generation. binnen stunden erreichten über 19.000 mails die zuständige staatsanwältin mit bitten um begnadigung - vergebens. nachdem troy davis hingerichtet wurde, fanden sich weltweit über 14.000 menschen zu stundenlangen mahnwachen zusammen.
obwohl die todesstrafe als konkretes rechtsstaatliches instrument in unserer realen umgebung also zunächst keine rolle zu spielen scheint, erhitzt sie die gemüter in einer ihr eigenen beständigkeit und vehemenz. wie kommt es dazu? „von drinnen“ versucht sich dieser frage zu nähern und verfolgt dabei drei verschiedene ansätze.

DIE LEBENDIGE STRAFE
zunächst versucht „von drinnen“ aufzuzeigen, dass sich die eingangs formulierte zustandsbeschreibung bei genauerem hinsehen als trügerisch erweist: die todesstrafe ist nicht abgeschafft. laut amnesty-international-berichten wurden 2010 in 23 ländern mindestens 527 menschen im auftrag des staates gehängt, erschossen, gesteinigt, vergiftet oder auf dem elektrischen stuhl hingerichtet. die usa, das alte vorbild unserer gesellschaft, fällt einem als erster der 58 staaten ein, die weltweit noch an der todesstrafe festhalten, gefolgt von der volksrepublik china, dem neuen vorbild unserer gesellschaft, deren vollstreckte todesurteile nach wie vor nicht öffentlich gemacht werden, sich jedoch alljährlich im bereich von mehreren tausend aufhalten dürften. wenigstens 2024 neue todesurteile wurden 2010 verhängt und ende des jahres gab es mindestens 17.833 zum tode verurteilte, die auf die vollstreckung ihres urteils warteten. sogar in der schweiz wurde eine bürgerbewegung für die wiedereinführung der todesstrafe ins leben gerufen, die allerdings scheiterte.
die erkenntnis, die hinter diesen zahlen schlummert, ist offenbar: als globales phänomen ist die todesstrafe in keinem fall als rechtsstaatliches fossil zu betrachten, sondern virulent und lebendiger gegenstand von diskussion und ausübung.

DIE MACHT DES STAATES
die zweite säule, auf der sich von drinnen seinem thema anzunähern versucht, findet sich im machtverhältnis zwischen staat und individuum. seit beginn des organisierten zusammenlebens suchen gemeinschaften nach einer antwort auf die frage, inwiefern ein staat macht auf seinen bürger ausüben kann. diese diskussion ist heute so aktuell wie eh und je und färbt einen großteil des zeitgenössischen sozialen diskurses: seien es die arabischen revolutionen, angemessene steuersätze, vorratsdatenspeicherung, jugendstrafrecht, rettungsschirme oder rentengelder - eine frage, die in jedem dieser diskurse auftaucht, lässt sich (stak vereinfacht) zusammenfassen als: "dürfen die das?" dürfen die uns soviel geld abnehmen? dürfen die uns überall filmen? dürfen die sich jedes telefonat merken? dürfen die mein geld zur rettung eines anderen staates ausgeben?
am beispiel der todesstrafe stellt sich diese frage im besonderen. der zugriff des staates auf seinen bürger kann entschiedener und deutlicher nicht sein, als dass er über sein physisches leben entscheidet. darf ein staat töten? von drinnen nutzt die todesstrafe als brennglas auf diese höchst aktuelle frage.


DIE ANGST DES EINZELNEN
in einer divergenten und divergierenden gesellschaft wie der unseren gibt es wenige themen, die für mehrere wenn nicht sogar alle menschen eine tatsächliche bedeutung haben - sterben ist eines dieser themen. versetzt man sich nun emotional in die lage eines zum tode verurteilten, so ist das sterben eine (von der schwachen aussicht auf plötzliche begnadigungen abgesehen) absolute gewissheit. zwar mag der zeitpunkt des todes von einer anonymen macht außerhalb der eigenen zelle bestimmt sein, gewiss ist jedoch: in dieser zelle bin ich nur, um zu sterben.
in diesem sinne versucht von drinnen auch, in der todeszelle einen ort komprimierten lebens zu entdecken und zu untersuchen: was bedeutet es, jeden tag dem tod entgegenzuleben? und wie fühlt sich das an? was würde ich tun, wenn ich wüsste, ich hätte nur noch 17 tage zu leben?